"Das Fenster"

Ein Gesamtkunstwerk unterschiedlicher Genres



"Gegenüber"
von Birgit Klügel

Juli 2006

Seit seine Frau gestorben war wohnte er nun in der Stadt. Sein Sohn hatte gemeint, dass er doch nicht so weit außerhalb leben sollte. Der Garten sei viel zu beschwerlich, und wie solle er denn zum Einkaufen kommen, nachdem das letzte Geschäft im Dorf seine Pforten geschlossen hatte.

Die Wohnung im 1. Stock war nicht groß - 2 Zimmer, Küche und Bad. Die wenige Hausarbeit war schnell erledigt. Das Mittagessen wurde von meist freundlichen Helfern von "Essen auf Rädern" gebracht und schmeckte fast immer gleich. Das frische Gemüse aus dem Garten fehlte ihm am meisten.
Im Fernsehen kamen immer die selben Programme, sie wurden immer lauter, poppiger, und er schien langsam völlig aus der "Zielgruppe" herauszufallen. Die ersten Tage hatte er damit verbracht im Schaukelstuhl zu sitzen und die Wände seinen neuen Heimes anzustarren.
Wenn er es nicht mehr aushielt wählte er irgendeine Nummer von früheren Freunden oder Verwandten. Alle waren beschäftigt und nur wenige nahmen sich ein paar Minuten Zeit für einen kleinen Schwatz. Lediglich sein Sohn besuchte ihn hin und wieder und ging mit ihm ein wenig spazieren.

Im Laufe der nächsten Wochen verbrachte er immer mehr Zeit des Tages am Fenster. Er hatte sich den bequemen Stuhl nahe ans Fenster gezogen. Um die Gasse hinunter und die Gasse hinauf schauen zu können, musste er aufstehen und sich weit vorbeugen. In der Wohnung gegenüber - unangenehm nah - wohnte die Frau, die in der ganzen Stadt als "Ratschkatl" verschrien war. Sie wusste über Jedes und Jeden Geschichten zu erzählen, und berichtete angeblich oft schneller als die Tageszeitung des kleinen Ortes. Die Frau im Käseladen hatte ihm von ihr berichtet.
Es half nichts, ihr Wohnzimmerfenster lag dem Seinen genau gegenüber. Wenn sie am Abend das Licht anknipste und - was ihn schrecklich störte - nie den Vorhang zuzog, konnte er jede ihrer Bewegungen im Raum verfolgen.
Sie war viel in Bewegung - obwohl sie den rechten Fuß etwas nachzog, war sie flink. Ihr Zimmer war immer mustergültig aufgeräumt. Die alten Möbel polierte sie einmal in der Woche. Überhaupt schien jede Handlung eine festgelegte Zeit zu haben. Die einzige Ablenkung in diesem Zeitablauf war nur, wenn sie Stimmen von der Gasse hörte und geschäftig ans Fenster eilte. Er wohnte nun schon seit 4 Wochen hier, sie schien ihn noch gar nicht bemerkt zu haben. Nun ja, es hatte im April ständig geregnet und zwei Mal auch geschneit, da öffnet man nicht so oft das Fenster und schaut raus. Aber nun im Mai hatte die Sonne sich plötzlich mit aller Kraft durchgesetzt. Die Menschen machten die Fenster weit auf um Licht und Luft in die winterstaubigen Zimmer zu lassen.
Auch die Frau gegenüber verbrachte nun viel Zeit am offenen Fenster. Den Blick meist nach unten auf die Menschen gerichtet, die durch die enge Gasse strömten. Nur ihn, der ihr genau gegenüber saß, schien sie nicht wahrzunehmen. Konnte das stimmen? Sie musste ihn gesehen haben. Einer neugierigen Frau wie ihr entging auch sonst keine Kleinigkeit. Manchmal hatte er den Eindruck, dass sie verstohlen einen Blick auf ihn warf. Sollte er sie grüßen? Sollte er sie womöglich ansprechen? Zu Hause in seinem Häuschen mit dem schönen Garten war das kein Problem. Über den Gartenzaun kam man sofort ins Gespräch. Jede Blume, die Wiese, die Stecklinge und vor allem das Ungeziefer boten wahrlich genügend Gesprächsstoff. Aber hier, in der Stadt allein unter Fremden - und dann ausgerechnet diese Frau. Er beschloss abzuwarten.
Diese Frau bereitete ihm zunehmend Kopfzerbrechen. Er wollte nicht über sie nachdenken. Nein, in seinem Leben musste es doch Interessanteres geben als diese Frau. Er griff nach der Zeitung - Stadtnachrichten - sie wusste das wahrscheinlich schon alles. Radio hören - ein Violinkonzert von Korngold - ob sie wohl auch Musik mochte? In vergangenen 4 Wochen hatte er keinen Besuch bei ihr gesehen. Am Morgen nach dem Frühstück - Tee, Brot mit Butter und Marmelade - ging sie Punkt 9 Uhr mit dem Öffnen der Geschäfte hinunter auf die Gasse, um einzukaufen. Ob sie wohl jemanden besuchte? Nach ungefähr einer Stunde kam sie wieder zurück. Danach blieb sie allein, bis auf die kurzen Abstecher auf die Straße, um Katzen zu füttern und mit Leuten zu tratschen. Sie schien nicht einmal einen Fernseher zu haben.
Morgen würde er den Wecker stellen, nicht bis 10 Uhr im Morgenmantel durch die Wohnung schlurfen. Morgen würde er um 9 Uhr zum Einkaufen gehen. Er würde seinen sauberen Rock anziehen und ein frisch gebügeltes Hemd. Als Witwer muss man einen guten Eindruck machen. Die Leute schauen ja auf Äußerlichkeiten.
Am nächsten Morgen war er rechtzeitig bereit.
Er folgte seiner neuen Nachbarin mit Abstand. Sie sollte ihn in Gottes Namen nicht entdecken. Als sie sich unerwartet umdrehte und wieder in seine Richtung lief, streifte ihn nur ein kühler Blick. Jetzt war aber Schluss, er würde sich mit Sinnvollerem beschäftigen als mit dieser Frau. Trotz dieses Entschlusses kreisten seine Gedanken weiter um sie.
Am kommenden Samstag wollte sein Sohn mit ihm gemütlich im Cafe frühstücken, er würde ihn auf andere Gedanken bringen.
Gerade als sein Sohn und er das Haus verließen, trat auch sie aus der Tür. In der engen Gasse standen sie sich unvermittelt gegenüber. Bevor er reagieren konnte, trat sein Sohn auf sie zu, strahlte und begrüßte sie wie eine alte Freundin.
"Kennst du sie nicht mehr Papa, meine Kindergärtnerin."
Jetzt endlich begegneten sich ihre Blicke und ruhten ineinander.


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